Waldorfschulen im Wandel
Buchholz: Herr Hoffmann, Sie sind selber Lehrer an einer Waldorfschule. Wie nehmen Sie Ihre tägliche Arbeit und deren Herausforderungen wahr?
Hoffmann: In 20 Jahren an der Waldorfschule waren und sind mein Arbeiten und die damit verbundenen Herausforderungen einem steten Wandel unterzogen. Insgesamt bleibt die größte Herausforderung jedoch, alle Wünsche und Erwartungen unter einen Hut zu bringen:
Die Bedürfnisse der Schüler:innen an erster Stelle, die mannigfaltigen Wünsche und Erwartungen einer heterogenen Elternschaft, der Anspruch der Waldorfpädagogik und damit auch verbunden der Anspruch an sich selbst. Dazu kommen die Aussagen und Vorgaben der Bezirksregierung und das kollegiale Mit- oder schlimmstenfalls auch Gegeneinander und Spannungen zwischen den verschiedenen Gremien in der Schule.
In vielen Schulen steht ein Generationswechsel an. Durch die Anfragen an den Sozialfonds nehmen wir wahr, dass Kolleg:innen häufig weit über das Renteneintrittsalter hinaus tätig sind. Gibt es ein „Nachwuchsproblem"?
Das Nachwuchsproblem ist nicht von der Hand zu weisen. Und es betrifft nicht nur die Waldorfschulen. Beispielsweise sind allein in NRW aktuell 4.000 Lehrerstellen unbesetzt. So gibt es für staatlich ausgebildete Lehrer:innen aktuell genug attraktive Stellen (Gehalt, mögliche Verbeamtung). Erfahrungsgemäß finden dann von den ausgebildeten Lehrer:innen nur wenige den Weg zur Waldorfschule. Die Not an den Schulen ist stellenweise sehr groß. In vielen Fällen sind es die Gründungskollegien, die über Jahre hinweg das Bild einer Schule geprägt haben, die jetzt die Schulen verlassen. Diese Situation fordert von den Schulen eine große Offenheit. Denn es geht darum, Menschen zu finden, die sich neu und am besten für längere Zeit mit der Schule verbinden. Die Lebensentwürfe der jungen Menschen, die nun an die Schule kommen, sind oft anders, als vor, sagen wir, 40 Jahren. Sie sind beweglicher und suchen teilweise gar nicht mehr die eine sichere Stelle bis zur Rente. So wird es meiner Ansicht nach zu einer größeren Fluktuation unter den Lehrkräften an Waldorfschulen kommen. Hier sind an den Schulen und vielleicht auch in der Lehrerausbildung neue Ideen gefragt, um die Attraktivität der Waldorfschulen sichtbarer zu machen.
Herr Hoffmann, Sie sind über Ihren Lehrerberuf hinaus systemischer Coach. Wie betrachtet die systemische Sichtweise einen Generationswechsel?
Wenn ich systemisch schaue, nehme ich gerne das Beispiel eines Mobiles zur Hilfe. Fein austariert schwingen an den verschiedenen Fäden die Elemente des Systems. Wenn nun an einem Element des Systems eine Änderung auftritt, gerät das ganze Mobile in Bewegung. Was hängt an den Fäden eines Schulmobiles? Wie schon weiter oben erwähnt sind es die Schüler:innen, die Eltern, das Kollegium als Gruppe und auch die Kolleg:innen als Einzelpersonen. Außerdem hängen dort die Waldorfpädagogik, die Anthroposophie, aber auch die schulrechtlichen und andere gesetzliche Vorgaben, die politische und gesellschaftliche Situation und noch vieles mehr. Leichte Winde kann das System mit etwas Ruhe von alleine ausgleichen. Bei größeren Turbulenzen ist eine Stabilisierung aus dem System heraus alleine oft nicht realisierbar. Und besonders die letzten zwei Jahre sind an den Schulen nicht spurlos vorübergegangen.
Welche Angebote könnten hilfreich sein, die unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht als Gegensatz, sondern als Vielfalt zu begreifen und voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu unterstützen?
Das Wichtigste an einem Angebot ist die Passung und die Offenheit. Entscheidend sind ein unvoreingenommener Blick von außen und eine fragende Haltung. Auch das, was selbstverständlich scheint, darf und muss sogar neu betrachtet werden, um ein neues Bewusstsein zu schaffen und die Generationen miteinander zu verbinden. Eine gewinnbringende Methode kann eine facettenreiche schulische Biographiearbeit in Anlehnung an die Kinderbesprechungen in den Konferenzen sein: Die Schule als Kind im Mittelpunkt der Betrachtungen. Klassische Tools aus dem Bereich des Coaching wie Systemaufstellungen, analoges Arbeiten, ausgehend von Bildern oder Methoden aus der Mediation, sind sehr dazu geeignet, Strukturen sichtbar zu machen, Potentiale und Ressourcen offen zu legen und Brücken zu bauen. Im Zentrum aller Schulentwicklungsarbeit muss meiner Ansicht nach die Lehrkraft mit ihren Ressourcen und ihrem Potential stehen, denn alle Erziehung ist (auch) Selbsterziehung im Sinne von Selbsterkenntnis.
Vielen Dank für den anregenden Austausch und Ihren Blick nach „Innen".
Weitere Infos zur systemischen Arbeit von Herrn Hoffmann finden Sie auf der Website www.henning-hoffmann.com
DIE AUFGABEN DES SOZIALFONDS SIND VIELFÄLTIG
Die Hannoversche Solidarwerkstatt e.V. fördert über den Sozialfonds neben Einzelmaßnahmen vor allem Projekte, die für die Mitarbeitenden der Einrichtungen einen gesundheitsfördernden Aspekt haben.
Darüber hinaus sind weitere unterstützende Projekte in den Schulen denkbar, z. B. Coaching- oder Forschungsprojekte zu Themen wie: Generationswechsel, neue Rollenverteilungen zwischen Lehrern und Schülern (und Eltern), informelles Lernen, Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz der Kolleg:innen o.ä..
Haben Sie sich in Ihrer Einrichtung bereits mit solchen Fragen beschäftigt?
Kommen Sie gerne mit uns ins Gespräch, ob eine Förderung Ihrer Projektidee aus dem Sozialfonds denkbar wäre.
Ansprechpartnerin:
Britta Buchholz
buchholz@hannoversche-kassen.de